Do It Yourself – two revolutionary songs
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Zwei Filme über Andere Räume, Selbstorganisation und neue Arbeitskonzepte
Gerade haben wir eine Mauer eingerissen, der Vorhang öffnet sich, wir gehen durch die Stadt, am Strand entlang, um gleich darauf in eine U-Bahn zu steigen, die uns zu einer Demonstration fährt. Filme haben den Vorteil, dass sie nicht an Raum und Zeit gebunden sind. Noch im Dunkel des U-Bahn-Schachts, das sich über die Leinwand ausbreitet und nun auch den Kinosaal vollkommen ausfüllt, hören wir die Titelmelodie.
„Ein Kind, das im Dunkeln Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. ... Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges ... Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, dass das Kind springt, während es singt, dass es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist schon bereits ein Sprung: es springt vom Chaos zum Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft jederzeit Gefahr zu zerfallen. Der Ariadnefaden erzeugt immer Klänge. Oder Orpheus singt.“[1]
Auch Revolutionäre singen, wenn sie im Chaos der Zustände, die sie aufgewühlt haben, einen Faden aufnehmen. Ihr Gesang ist manchmal schon eine feste Ordnung und wird begleitet von einer klaren Choreografie. Häufiger mag der Gesang sich nach Lärm anhören, nach einem Rauschen, dessen verborgene Rhythmen man erst erkennt, wenn man sich mitreißen lässt.
Beide Filme, von denen hier geschrieben werden soll, erzählen von solchen Liedern. Der Video-Loop BUILDING FESTIVAL von Benjamin Cölle[2] beschreibt die Rhythmen selbstorganisierter Arbeitsformen am Bau eines alternativen Kinos. Während Nele Wohlatz in ÜBEN FÜR UTOPIA[3] die vielstimmigen Geschichten der Kooperativen in Argentinien mit Proben zu einem Theaterstück über Fabrikbesetzungen und eigenen Texten zu einem komplexen filmischen Essay über utopische Arbeits- und Lebenszusammenhänge montiert.
Zu Anfang des Videos BUILDING FESTIVAL sehen wir Schwarzbild und hören eine sich aufbauende, lauter werdende Tonspur aus rhythmisch zusammengefassten Sound-Scapes, die sich nach einiger Zeit als akustische Spuren von Arbeit lesen lassen. Hammerschläge. Maschinengeräusche. Dazwischen Satzfragmente in verschiedenen Sprachen. „Mit dem Film ging es uns stark um Atmosphäre. Mehr als darum, etwas zu dokumentieren. Ich wurde dabei inspiriert von einem Film aus Tansania: These Hands. Das ist ein Film über einen Steinbruch und man sieht die ganze Zeit Frauen, die Steine zerklopfen. Ich war sehr an den Rhythmen interessiert, die dort passieren.“[4]
Wenn schließlich das Bild erscheint, haben wir uns schon eine Vorstellung von Arbeit gemacht. Nun geht die Kamera von Raum zu Raum, wird scheinbar herumgereicht und zeigt uns, wie under construction ein Kino entsteht. Der aufgegriffene Faden spannt einen neuen Raum auf. Doch Benjamin Cölle erzählt dabei nicht linear. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Nur andauernde Abläufe. Das koppelt die Arbeit vom Produkt los und verschiebt so die Betonung auf den Prozess. Auch die wenigen Texttafeln im Abspann, in denen wir erfahren, dass ein Kino gebaut wurde, das nun selbstorganisiert betrieben wird, funktionieren als Verweis auf weitere Prozesse und andere Umbauten. Umbau der Kinolandschaft. Umbau der Sehgewohnheiten und Repräsentationsmuster. Gemeinschaft entsteht hier im Prozess und wird nicht als einheitlicher essentialistischer Körper präsentiert.
Auch wenn es sich um konkrete Arbeit handelt, bleibt das Produkt für das Publikum spekulativ. Wir erfahren nichts Genaues über die Bedingungen, unter denen das BUILDING FESTIVAL stattfindet und wie das Kino im Weiteren arbeiten wird. Die gezeigten Abläufe haben vielmehr Symbolcharakter. So kann man die Betonung des Rhythmischen (d.h. zeitlich sich Entfaltenden) und Unabgeschlossenen (Loop) auch als politisches Modell lesen, das Prozesse immer der Etablierung von Politik als räumliche Machtstruktur vorzieht.[5] Und genau darin liegt meiner Ansicht nach das politische Potential des Films. Auf der symbolischen Ebene kann eine politische Handlungsfähigkeit proklamiert werden, ohne sich einer pragmatischen Problemlösung verschreiben zu müssen. So fragmentarisch non-linear wie der Film gestaltet sich auch das politische Handeln, wenn es sich nicht augenblicklich nach den kleinsten Errungenschaften schon zur Ruhe setzen will und nur Räume schafft, um Institutionen zu vermehren.
Auch Nele Wohlatz geht es in ihrem Film ÜBEN FÜR UTOPIA eher um die Erforschung realer Prozesse als um die Betrachtung von Räumen oder Verräumlichungen des sozialen Umbruchs. Und das trotzdem oder gerade, weil sie konkrete Räume aufsucht.
Für ihren Film ist die Szenografin und Dokumentarfilmerin einige Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Argentinienkrise mit einer deutschen Theatergruppe nach Buenos Aires gereist, um dort die Entwicklung eines Theaterstückes über die jüngste Geschichte der Fabrikbesetzungen filmisch zu begleiten. Über die Theaterproben hinaus beobachtet sie Alltag und Arbeitsabläufe in den besetzten Fabriken und in der Stadt, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Arbeit an ihrem Film ermöglicht ihr den Zugang zu den Produktionshallen, Verwaltungsgebäuden, Versammlungen und Demonstrationen. Sie befragt Arbeiter/innen und Frauen aus der Verwaltung verschiedener Kooperativen, einen Psychoanalytiker, der eine eigene Kooperative gegründet hat und die Prozesse der Fabrikübernahmen begleitet; sie nimmt Stimmen aus den Versammlungen auf und verfolgt die Entstehung der Texte für das Theaterstück, das in einem besetzten Hotel geprobt wird.
All diese Orte könnte man als Heterotopien bezeichnen, deren Ein- und Ausschlussmechanismen Nele Wohlatz untersucht – nicht zuletzt, wenn sie ihr eigenes Verhältnis zu den Eindrücken um sich herum befragt.
Heterotopie ist ein Begriff, den Michel Foucault in den 60er Jahren in seinem Aufsatz Andere Räume einführt. Im Gegensatz zur Utopie, die immer irgendwie unwirklich bleibt, sind Heterotopien reale Orte. Und auch wenn Nele Wohlatz ihren Film ÜBEN FÜR UTOPIA nennt, ist doch bereits das Wort Üben ein Indiz dafür, dass sie sich weniger für die Utopie selbst als für die konkreten Prozesse interessiert. Der Begriff Heterotopie bezeichnet – analog zu Foucaults Konzeption von Macht – Räume, die den bürgerlichen öffentlichen Raum vervielfältigen und mit einem Netz aus heterogenen Gegen-/Entwürfen durchziehen. Räume, die zwar nicht außerhalb der Mächte einer bürgerlichen Öffentlichkeit entstehen – nicht einmal als eindeutige Gegenentwürfe –, die sogar mit allen anderen Räumen in Beziehung stehen und die dennoch so etwas wie realisierte Utopien darstellen, „in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind (...).“[6] Wie die besetzten Fabriken und Kooperativen in Argentinien, die zwar immer noch unter Produktionsdruck stehen, um die Existenz der Mitarbeiter/innen abzusichern, in denen dennoch Prozesse der Selbstermächtigung Vorstellungen von Arbeit und Gemeinschaft in Bewegung gebracht haben.
In Nele Wohlatz’ Film haben alle Akteure ihre eigenständigen Positionen.[7] Sie werden weder sprachlich vereinheitlicht als Teile von etwas noch repräsentieren sie eine gemeinsame Idee. Vielmehr entsteht hier, wie auch in Benjamin Cölles Video-Loop, Gemeinschaft im Prozess, im Widerspruch, in der Selbstbefragung.
Die aus der Bewegung der Kooperativen entstandenen Frei-/Räume sind vor allem multipel. Nicht das eine Andere, sondern viele. Als realisierte Utopien sind sie gleichzeitig materielle und metaphorische Orte. Diese zweifache Räumlichkeit macht es möglich, diese Orte als soziale Praktiken zu begreifen und zu sehen, wie sich Vorstellungen, Begehren, Mythen und Erzählungen an realen Orten in Fabriken, Hotels, Kooperativen und auf den Straßen materialisieren und sie in Heterotopien verwandeln. Diesen Prozess zeichnet Nele Wohlatz auch in ihrem Off-Kommentar nach, wenn sie faktisches Wissen, reale Erlebnisse, Träume, Briefe an die Eltern sowie Koordinaten ihrer Reise und ihres Filmvorhabens textlich miteinander verbindet. Sie bewegt sich in ihrem Text durch physische Räume ebenso wie durch die Sedimente ihrer eigenen Lebenspraktiken und Vorstellungen sowie durch die der argentinischen Gesellschaft.
Ihre Frage nach der Möglichkeit der Solidarisierung lässt die Erforschung der verschiedenen sozialen und politischen Praktiken, die ihr begegnen, nur umso dringlicher erscheinen. Die Position, die sie für sich reklamiert, ist die der außerhalb Stehenden und doch scheint sie permanent in Frage zu stellen, ob es ein solches Außen überhaupt gibt. Und wenn wir immer schon involviert sind, wie verhalten wir uns?
Im Off-Kommentar beschreibt sie den Wunsch, mit eigenen Augen sehen zu wollen, und das Bedürfnis, etwas zu verstehen. Die Anziehungskraft, die dabei gerade Argentinien auf sie hat, mag darin liegen, dass sich hier seit Ende der 90er Jahre etwas ereignet hat. Ein Ereignis trotz allem. Trotzdem die Einflussmöglichkeiten der Arbeiter/innen und Bürger/innen weltweit immer geringer geschätzt werden. Trotzdem der wirtschaftliche Umbau Argentiniens mit einer großen Privatisierungswelle seit Anfang der 90er Jahre unaufhaltsam erschien. Trotzdem immer noch allzu oft von nur EINER Moderne und EINER linearen Geschichte ausgegangen wird, obwohl es andere Geschichtsmodelle und andere Modernisierungstheorien gibt. Tatsächlich gibt es mehrere Geschichten.
Die sogenannte Argentinienkrise hat Ende der 90er Jahre angefangen und wirkt bis heute nach. Es könnte die Geschichte eines Zusammenbruchs sein. Bankenkrise, Massenarbeitslosigkeit, Kapitalflucht, Armut. Stattdessen müssen wir heute komplexere Geschichten erzählen und auch vom Ereignis der Selbstermächtigung sprechen.
In einer großen Privatisierungswelle Anfang der 90er Jahre wurden in Argentinien viele Staatsbetriebe verkauft, was unter anderem dazu führte, dass weite Teile der argentinischen Wirtschaft vom Ausland abhängig wurden und somit auch anfällig für Spekulation und Kapitalflucht. Ein Phänomen, das Ende 2001 maßgeblich zur Bankenkrise beigetragen hat, in deren Zuge viele Fabriken geschlossen wurden. Als Auswirkung stieg neben den Arbeitslosenzahlen auch die Zahl der Unterbeschäftigten und der Angestellten in der informellen Wirtschaft, wie beispielsweise die Cartoneros, die im Müll nach recyclebaren Materialien suchen und diese dann verkaufen. Diese Zustände führten zu immer mehr Protesten und Demonstrationen. Die Protestierenden haben Straßenblockaden gebaut und wurden nach 2001 zeitweise zu einem wichtigen Machtfaktor in der argentinischen Politik.
Weitere Geschichten erzählen von der Einführung alternativer lokaler Währungen als Versuch, Kapitalflucht und Inflation einzudämmen. Oder von der Entstehung von Tauschringen, die zum Teil eine freiwirtschaftliche Ideologie (zinslose Wirtschaft) verfolgten, meist jedoch, als Ausgleich für die fallenden Gehälter, dem Austausch von Lebensmitteln und Dienstleistungen dienten. Sie wurden ab 2001 zu einem wahren Massenphänomen. Praktiken, die nicht zuletzt antikapitalistische linke Bewegungen in Europa inspiriert und beflügelt haben.
Und schließlich die Geschichte der landesweiten Fabrikbesetzungen, zu denen es nach dem endgültigen Zusammenbruch der Wirtschaft kam.[8] Heute befinden sich noch immer mehr als 200 Fabriken in Arbeiterselbstverwaltung und beschäftigen mehr als 10.000 Mitarbeiter/innen. Fast alle diese Betriebe bestehen als Kooperativen.[9]
„In der Weltpresse und vor allem in der linken Presse wird die Bewegung in Argentinien seit Ende der 90er Jahre beobachtet. Auch mich hat das sehr beschäftigt. Ich wollte nach Buenos Aires, weil ich hoffte, dann etwas über Weltwirtschaft zu lernen oder den Begriff Utopie zu verstehen. Aber als ich da war, habe ich mich plötzlich gefrag, was ich hier eigentlich mache. Wie kann ich solidarisch sein? Ich gehe dahin und weiß eigentlich gar nichts. Für mich wird da der Begriff des Übens wichtig. Man kann ja nur üben.“[10]
Der Begriff des Übens ist im Kontext der Zurück-/Eroberung von Handlungsspielräumen schon deshalb produktiv, weil er einen offenen Prozess beschreibt. Das Üben ist eine tendenziell unabgeschlossene Bewegung, die sich auch Verwerfungen und neuen Entwicklungen öffnet, weil sie immer über den momentanen Zustand hinaus will.
Auch wer politische Zustände ändern möchte, begibt sich in einen solchen Prozess der andauernden Bewegung. Immer mehr Menschen greifen auf alternative Konzepte als ein Mittel zum selbstbestimmten oder widerständigen Handeln zurück, weil sie den massiven kapitalistischen Druck nicht aushalten.[11] Eine Möglichkeit ist es, als Antwort auf den verstärkten Druck mit Formen und Initiativen zu reagieren, die Demokratisierungsprozesse mitdenken und gestalten. Eine Fabrik besetzen, ein Kino bauen, ein Festival initiieren.
ÜBEN FÜR UTOPIA ist auch ein filmischer Essay über die komplexen Beziehungen von Film und Realität, Kunst und Politik sowie über das Filmemachen selbst.
Als Filmemacher/in kennt man das: Bilder, die einfach schwer zu filmen sind oder gar nicht, weil es Momente gibt, in denen man die Kamera besser ausgeschaltet lässt.[12]Dennoch haben diese ungefilmten Bilder ihr Eigenleben im Prozess des Filmemachens. Wenn Nele Wohlatz einige Begebenheiten aus dem Off beschreibt, anstatt sie zu zeigen, oder von ihren Träumen erzählt, dann ist das wie eine Brücke zu all den ungefilmten Bildern und somit zu ihrem ganz eigenen Prozess des Filmemachens. Dadurch ist der Film schon mehr als eine reine Dokumentation. Es geht auch um die Bedingungen und Möglichkeiten des Bildermachens und um die Frage, wie man von einem Ereignis berichten kann.
„Kamera, Ton, Interviews – alles habe ich selbst gemacht. Ich habe versucht, eine Nähe herzustellen, und gleichzeitig war ich dieser technische Apparat. Deshalb blieb fast immer eine Distanz. Bis auf ein paar Momente. Das waren aber keine spektakulären Momente, in denen ich zum Beispiel etwas Privates von den Leuten erfahren habe, sondern es waren Fehler im Ablauf. Wenn Menschen aus der Rolle gefallen sind, weil es eine Unterbrechung gab. Das waren die Momente, die mich interessiert haben.“
Was könnte angemessener sein, um sich einer politischen Bewegung anzunähern, als Menschen zu zeigen, die aus der Rolle fallen.
Dieses Aus-der-Rolle-Fallen meint aber nicht etwa einen voyeuristischen Moment, vielmehr sind sich die Gefilmten der Kamera sehr bewusst. Sie unterwerfen sich ihr aber nicht, sondern blicken beispielsweise direkt ins Objektiv und durchkreuzen so den filmischen Raum oder sie geben Zeichen, um zu signalisieren, dass sie gerade bewusst etwas für die Kamera getan haben. Statements. Sie werden nicht nur gefilmt, sondern gestalten ihre Repräsentation mit. Nicht zuletzt durch diese bewusst montierten Momente macht der Film deutlich, dass er Subjekte zeigen möchte.
Neben dem Kommentar und der darin zum Ausdruck gebrachten Selbstreflexivität sind es diese Fehler im Ablauf, diese Bilder, die auf die Anwesenheit der Kamera verweisen, die Nele Wohlatz als Authentifizierungsstrategien verwendet und kenntlich macht. Authentizität sucht sie nicht in der Sache selbst, sondern sie vermittelt sie über verschiedene Strategien und zeigt sie als Ergebnis ihrer filmischen Bearbeitung.
In beiden Filmen sind es einmal die unregelmäßigen Rhythmen der Abläufe, die dabei herauszuhören sind, und ein anderes Mal der heterogene Chor verschiedener Melodien, die vom Herstellen oder Intensivieren ästhetisch-kreativer und politischer Prozesse erzählen.
Abblende ins Schwarz. Abspann. Ein Text von Alex Gerbaulet über Filme von Benjamin Cölle und Nele Wohlatz. Das Licht geht an. Das Gespräch kann beginnen. Den Kinosaal geschlossen verlassen.