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An der Kreuzung vor Haus Nummer 55 oder KOO KOO ROO

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Die Realitäts-Fiktionen in den Fotografien von Mirko Martin


Eine menschenleere Kreuzung. Im Hintergrund sehen wir ein Eckgebäude aus rotem Stein mit der Hausnummer 55. Gelbe Verblendungen vor den Fenstern. Rote Leuchtbuchstaben an der Fassade sagen KOO KOO ROO. Vor dem Gebäude stehen zwei Palmen. Alle Ampeln sind auf rot geschaltet. Im Vordergrund zwei Autos, die einen Auffahrunfall hatten. Das Heck des hinteren Wagens ist stark zerbeult. Um die Vorderseite des zweiten Wagens weht noch eine bläuliche Wolke. Verstreute Splitter. Ausgelaufenes Öl rinnt über die gesamte Kreuzung vorn aus dem Bildausschnitt heraus. Die Unfallszene bildet einen eigenartigen Kontrast zu dem Eindruck von Stillstand, den der Rest des Bildes vermittelt. Der Unfall scheint sich gerade erst ereignet zu haben, dennoch sind beide Wagen leer. Keine Schaulustigen haben sich eingefunden. Ebenso fehlen Polizei und Rettungsdienst. Es ist eine städtische Kreuzung, und dem Licht nach ist es mitten am Tag. Ein Unfall ist geschehen, doch es fehlen die Akteure.

Mirko Martin zeigt in der Fotoserie L.A. Crash viele Orte, die wir mit der Vorstellung von Tatorten verbinden.[1]Nicht zuletzt, weil wir durch unsere Seherfahrungen durch Film, Fernsehen oder Presse die Szenen gleich medial einzuordnen wissen. Er spielt aber auch mit dem Vorurteil, welches wir der Fotografie gegenüber immer noch haben: What I see is what I believe. Erst der zweite Blick ruft Zweifel an der Echtheit seiner Fotografien hervor, die uns auf mögliche Inszenierungen innerhalb der Bilder lenken. Und somit auch stärker auf ihre Geschichten.[2] Da man von den meisten Fotografien auf die eine oder andere Art sagen könnte, sie seien inszeniert, nimmt Christine Walter in ihrem Buch Bilder erzählen![3]eine engere Definition vor. Danach folgt Inszenierte Fotografie nicht nur den sämtlichen Fotografien mehr oder minder inhärenten inszenierten Momenten, sondern vielmehr einer tatsächlichen theatralischen Inszenierung, wobei eine große Nähe sowohl zum Theater als auch zum Film besteht. Der Begriff der Inszenierung wird bei Walter im Sinne neuerer Theatertheorie verwandt und beschreibt den gesamten Akt der Darstellung (Bühne, Licht, Darsteller etc.). Dargestellte Personen scheinen darin gleichsam Rollen einzunehmen. Auch die von Mirko Martin innerhalb der Fotoserie L.A. Crash portraitierten Personen wirken wie Akteure in einer Geschichte.[4]

Auf der eingangs beschriebenen Fotografie sind allerdings keine handelnden Personen zu sehen, was die Spannung noch zu steigern scheint, da wir uns automatisch fragen, was geschehen ist. Mirko Martin schreibt, dass viele der Aufnahmen an Filmsets im Stadtraum von Los Angeles entstanden sind.[5] Was die stark durchkomponierten Szenerien erklärt, die dramatische Ausleuchtung, die menschenleeren Orte. Neben den für Filmaufnahmen konstruierten Sets hat er auch dokumentarische Aufnahmen der Umgebung von Dreharbeiten gemacht. Er lässt dabei offen, welche Fotoszenerien dokumentarisch und welche inszeniert sind. Unsere Sehgewohnheiten, unser geschulter Blick, unser Wissen über Kultur/ Film/ Fotografie werden direkt angesprochen, und folglich erinnern uns die Bilder an etwas. Für einen Moment ist uns gleichgültig, ob wir es mit Inszenierungen zu tun haben oder nicht. Wie inszeniert die Fotografien von Mirko Martin auch sind, immer sind sie voller Codes, die wir entschlüsseln können.[6] Es passiert etwas, es wird ein wesentlicher Moment festgehalten, und Momente sind doch immer noch magisch. Wir denken, darin liegt etwas Unverfälschtes, es wird trotz allem etwas mit ins Bild gebracht, was nicht geplant war, ein Quäntchen Jetzt! So ist es. Der Autounfall mindestens hat sich tatsächlich ereignet.[7] Lesen wir also immer bestimmte Wahrheiten heraus? Den wahren Film in den Filmstills, wobei der Film ja selbst eine inszenierte Wirklichkeit ist?[8] Oder die wahren Taten hinter den Tatortfotos? Die wahren Emotionen und Beziehungen hinter den Posen und Gesten?

Wirken inszenierte Fotos deshalb so stark und auf ihre Art wie Bruchstücke von Wahrem, eben weil sie so stark mit unserem kulturellen Gedächtnis korrespondieren? Nachdem etwas geschehen ist, sind es vor allem die Gesten, die als dauernde Zitate weiter bestehen und etwas von dem zu bewahren scheinen, was sich zugetragen hat.

Mirko Martin spielt uns diese Gesten noch einmal zu, als Zitate, als noch einmal fotografierte Filmsets, als dokumentierte Aufnahmen davon, wie Realität gemacht wird.

 

[1]Es ist interessant, sich andererseits tatsächliche Tatortfotos aus L.A. anzusehen, z.B. Fotos aus dem Polizeiarchiv des LAPD (Los Angeles Police Department) – diese Dokumentarfotos erinnern wiederum an Filmszenen und haben starke Anlehnungen an den Film Noir. Wohl nicht zuletzt, weil viele Fotografen, die bei der Polizei mit diesen Fotos Geld verdient haben, auch beim Film gearbeitet haben. „Wie alle Fotografien können diese im Lauf der Zeit ihre Bedeutung verändern; in anderen Zusammenhängen betrachtet, gewinnen sie einen neuen Sinn – von der Dokumentation zur Komposition, vom Beweisstück zum Werk?“ (siehe dazu Katalog: The Art of Archive, Fotografien aus dem Archiv des LAPD, Zürich 2005)

[2]Das Tatortfoto muss später auch als solches benannt und bezeichnet werden. Andernfalls lässt sich gegebenenfalls gar nicht mehr sehen, dass es sich um einen Tatort handeln könnte. Und dieser Moment des Bezeichnens ist gleichzeitig auch Fiktion. Das Erzählen der Geschichte zum Bild, wenn es sich auch um eine „wahre“ Geschichte handeln mag. Der Betrachter bringt also das Bild hervor, da wo der Apparat lediglich aufzeichnet, feststellt.

[3]Christine Walter, Bilder erzählen!, München 2001

[4]Während Mirko Martins Fotografien oft einen narrativen Charakter haben und bewusst Zweifel streuen über den Wahrheitsgehalt der gezeigten Szenerien, sind die Handlungen in seinen Videos sehr reduziert und nehmen sich, genau beobachtend, meist die Gesten der gezeigten Personen vor. Aber auch hier sind die Akteure nie einfach portraitiert, sondern immer auch Träger von Rollen. Besonders in Javi, wo die Personen vor dem ausgestanzten Hintergrund wie Schauspieler auf einer Bühne wirken, die unhörbaren Regieanweisungen zu folgen scheinen. Oder die Halbstarken in Flow mit ihren durch die Zeitlupe verstärkten Gesten und Posen, gefangen in ihrer jugendlichen Heterotopie.

[5]Los Angeles ist eine viel gefilmte und fotografierte Stadt – jedes Bild von ihr ist immer schon medial vermittelt. Auch der Titel von Mirko Martins Fotoserie L.A. Crash verweist auf einen gleichnamigen Film: L.A. Crash ist der im deutschsprachigen Raum (und nur dort) verwendete Titel für das US-amerikanische Episodenfilmdrama Crash aus dem Jahr 2004. Regie führte Paul Haggis, welcher auch das Drehbuch schrieb. Die erste Szene zeigt einen Autounfall, an dem der Polizist Graham Waters und seine Kollegin Ria beteiligt sind. Der Unfall ereignet sich an einem Ort, an den sie gerufen wurden, weil es dort einen Mord aufzuklären gilt.

[6]Der Überschuss an (Be-) Deutungsmöglichkeiten macht paradoxerweise ihren Authentizitätswert aus (denn so wird jedes Foto für den Betrachter zur individuellen Erfahrung – in dieser Hinsicht sind wir Kannibalen).

[7] Derrida sagt, „Vom Ereignis zu sprechen heißt sagen, was ist, ... die historischen Ereignisse so zu beschreiben, wie sie sich zugetragen haben, ...“ und ergänzt, „Es ist bekannt, dass die Techniken der unmittelbaren Wiedergabe von Worten und Bildern im selben Maß, in dem sie sich entwickeln, zugleich auch interpretieren, selektieren und infolgedessen das Ereignis machen, anstatt es bloß abzubilden.“ Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Merve Verlag Berlin 2003

[8]Der Vorteil, den rekonstruierte, also inszenierte Fotos (und Filme) haben: Sie zeigen, was eigentlich nicht gezeigt werden kann/ konnte, sehen, was nicht zu sehen ist – eine unmögliche Zeugenschaft. Beispielsweise die Fotos von Nick Waplington, die Tatorte von (Selbst-) Morden rekonstruieren und somit auf tatsächliche Ereignisse verweisen.