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Schon Nachmittag

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Ines Meier / Alex Gerbaulet


Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig liefert für ganz Deutschland die Zeit. Ihre Atomuhren steuern sämtliche Funkwecker, Bahnhofsuhren und viele Abläufe in der Industrie. Sie sind so genau, dass erst in drei Millionen Jahren eine Abweichung von einer Sekunde zu erwarten ist.

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Schon Nachmittag, auf der Fahrradstange das nächste Bier. Wir glotzen rote Erdhaufen an, denn Darwin ist unzuverlässig, er kommt nicht und das schon seit einer Stunde. T. hat inzwischen beide Bügel seiner Brille verloren und trägt sie nun mit der Hand. Was er heute schon gelogen habe, sagt er, glaube er selbst nicht. Keine Ablenkung, das Gehirn bläst sich auf wie ein Ballon und droht der Schädeldecke. Ein günstiger Moment, um beginnendes Schielen zu rechtfertigen.

Wir führen Tiere mit uns herum, Haut mit was drin, das sich bewegt und sich querstellt. Das, was sich querstellt, quiekt, weil es zu groß ist für die Haut. Trotzdem trauen wir uns nicht, die Tiere mit was drin totzutreten. Ich stopfe die herumliegenden Blätter in den Mülleimer. Die Sträucher hätten sich nicht so breitgemacht, wären sie Züge gewohnt. Es regnet, als würde es nie wieder aufhören, gleichmäßig, ohne Eile, demonstrativ. Ich habe immer noch eine Vorratsvorstellung vom Wetter, als müsste es irgendwann zu Ende sein.

 

Ich grüße Leute, nur weil ich sie schon so oft gesehen habe. So viel Kaffee kann man gar nicht trinken, wie man Blut hat. Der Mann vom CroBag murmelt: Haus und Auto kaufen. Und schon behauptet er wieder was von Effizienz. Als ob es um ein Sieb geht. Jemand fragt nach dem Haupt-Bahnhof, als wären wir in der Großstadt. (Zumindest gibt es den Ort das ganze Jahr.) Er ist unser erster Hund und wird unser letzter sein. Es gibt keinen besseren. Er macht, was ich ihm sage, er macht, was ich will.

 

Ich übe, weniger da zu sein. Flach atmen. Trotzdem bei jedem Gähnen ein Knacken in den Ohren, so dass ich immer besser hören kann.

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Wenn es dunkel ist und in meinem Flur Licht brennt, spiegeln sich der Flur und die Glastür zum Flur in der Fensterscheibe und überblenden die erleuchteten Fenster des Hauses gegenüber. Ich schau mir das immer an und würde gern rauchen. Letztens saß gegenüber hinter einem der Fenster eine Partygesellschaft. Ich habe mich so hingestellt, dass es aussah, als würden sie bei mir sitzen. Wenn jemand aufgestanden ist, sind sie meinen Flur entlang bis in die Küche gegangen oder ins Bad abgebogen.

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Ich habe die Leichen versteckt. In einer Wand, die nun die Wohnung trennt. Ein Waschbecken, die Handschuhe quellen unter dem Wasser auf, werden so glitschig, dass ich sie nicht mehr ausziehen kann.

(Heute, ich würde gern behaupten: Infolge, bin ich aus der Kirche ausgetreten.)

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Bedel. 12 000 Fallschirmspringer, Knochensäcke, wie Quallen in der Luft. Einer nach dem Anderen raus, über Braunschweig, hundert Prozent original.

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Ich bin ganz bei mir. Die Daumen geschält, bis aufs Blut. Ich schlafe nicht mehr. Ein Herumgezerre in der Magengegend. Ich vergaß, ich wollte nachsehen: wie viele hat die Kuh? Auch der Frosch, der seinen Nachwuchs im Magen heranwachsen lässt und ihn dann auswürgt. Das ist die Geburt. Irgendeine Substanz verhindert, dass das Tier verdaut wird.

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T. sagt, der erste Schritt zur Zufriedenheit sei eine glückliche Beziehung zu den eigenen Exkrementen. Der Ort streckt mir den Mittelfinger entgegen, ich schneide Grimassen. Irgendwann nimmt man diese Stadt persönlich. T. hat früher jedem Flugzeug gewunken, weil er dachte, seine Mutter säße darin. Funktionierende Realitätskontrolle ist ein Plus an Gesundung. Ich treibe mich davon, heraus, immer am Rand, den Körper aufrecht, als wäre ich wirklich dabei. Beinahe werde ich künstlich ernährt. ES WIRD GEGESSEN, WAS AUF DEN TISCH KOMMT. Wir schinden uns, und wer noch lachen kann, gewinnt. Ich hätte mir schon die Augen ausgekratzt, damit ich das alles nicht ständig sehe. Wäre ein Kohleofen da, könnten wir wenigstens ins Feuer starren. So bin ich aufgewachsen, immer ein Auge in der Glut.

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Erinnerungen, die sich als Zeitlupe dehnen lassen. Im Vorbeigehen ein Blick in eine Lobby. Eine Frau steht im Gegenlicht und bewegt sich nicht. Aufrecht, mit gestrecktem Rücken. Einen Arm hält sie etwas abgespreizt. Kringel aus einer Zigarette steigen von ihren Fingerspitzen auf. Schwarzweiß.

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Plötzlich sind alle Blätter gelb. Ich bin zurück und dieses zurück ist nur ein Reflex in der Sprache. Ein Platzhalter. Die Summe des Lichts, die der Film wirft. Filmemacherinnen können nicht toben, die haben immer eine Kamera in der Hand. Eine Puppe findet aus ihrer Umgebung heraus Beweise für ihre Existenz. Wir kennen uns, aber viel erlebt haben wir nicht. Ein Liter grüner Tee pro Tag verringert die Lichtempfindlichkeit der Haut. Digitalkameras sind nur für Weitsichtige.

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Die Vögel fallen von der gegenüberliegenden Hauswand wie von Schanzen, immer habe ich Angst, sie würden an meiner Scheibe zerplatzen.

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Ich war zum ersten Mal am Tag hier in der Jahnstraße. Sommer. C. und zwei Jungs saßen in Sesseln auf der Straße. Ich dachte an Permanent Vacation. Auch die Klamotten sahen aus wie ein Filmzitat aus den 80ern. Ich nicht besser. Deplatziert in Hemd und Anzughose. Ich teile mit C. ein Bier. Ihre Katze rennt über die Straße und faucht. Im Hintergrund bellen Hunde. Eigentlich bin ich dafür zu müde.

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Die Achse Bahnhof – Pippelweg. Im Kreisverkehr Pflanzen, die zu jeder Jahreszeit an Igel erinnern. Der Taxifahrer spricht über die Vorteile von Plastikweihnachtsbäumen. Reine Fahrzeit: weniger als zehn Minuten.

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Als er das erste Mal hier war, hat T. in einem Altenheim übernachtet, weil alles andere ausgebucht war. Friseur, Apotheke und Orthopädie im Haus. T. sagt, Gott bräuche keine Synapsen. Mit achtzehn ist er hergezogen, hinters Theater, damals war das eine Großstadt. Er hat dann jeden Tag seinen ersten Kaffee vor dem Dom getrunken und den zweiten bei Karstadt.


Im Supermarkt rennt vor mir ein Mann durch den Gang, schüttelt sich, zerrt an den Hosenbeinen, wimmert. Ihn würde ein Tier verfolgen, flüstert er, es bedroht ihn, er windet sich, das Tier lässt nicht los, er greift sich verzweifelt von hinten in die Hose, versucht es zu fassen.

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Nach einem Unfall hängt ein Auto von einer Brücke, die Weiterfahrt verzögert sich, um unser Verständnis wird gebeten. Meine Fahrkarte hat inzwischen so viele Löcher, dass ich mich frage, ob ich damit auch noch zurückfahren kann.

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3.6. 2:50 Uhr. Ich rufe 110. Ort: Imbissbude in der Hugo-Luther-Straße kurz vor der Kurve zur Jahnstraße. Sie kommen innerhalb weniger Minuten mit zwei Wagen. Vier Bullen. Oder sollte ich jetzt lieber Po li zei sagen. Bereitschaft und Sitte.

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Ein nackter Mann läuft hinter mir her. Ab Höhe Blumenstraße. Etwa 1,80 m, dunkle Haare, vielleicht Zopf, Bartstoppeln, noch nicht alt (was auch immer das heißt), helle Haut (die Polizistin am Telefon fragte zuerst, ob der Typ ausländisch aussähe, da hätte ich fast wieder aufgelegt), erigierter Penis, keine Tattoos, kaum Haare auf der Brust. Ein Polizist traut sich irgendwann zu fragen, ob er untenrum rasiert sei. Sein Kollege sagt, das sei doch unwichtig. Nein, sage ich. Ist doch kein Indiz oder so, sagt er. Hippie-Typ, schlaksig, könnte betrunken sein, lallige Stimme.

Ich denke, er schreit, weil es sonst so leise ist. Weiß aber, dass er kaum mehr als flüstert. Beschwörend. Meine eigene Stimme ist ungemein laut. Schnelle Schritte. Ist das ein Schock? Alles wie in Watte. Ich träume von nackten Zombies. Es stellt sich heraus, dass alle schwul sind. Ich bin erleichtert. Dann ein Zombi im Treppenhaus, der mich vollquatscht. Inzwischen bin ich so was von genervt.

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Dauerwelle, nach hinten gelegt, da kann der Gegenwind nichts mehr. Das Gesicht als ein vom Friseur gemachtes Bild. In den Zeitungen vom letzten Jahr verliebt sich ein Trauerschwan in ein Tretboot. Dass man immer der Zweite ist, rettet die Welt. Mein Kollege hatte das falsche Datum in der Zange. Nur weil man zu weit links fährt, ist man noch lange nicht verreist. Ich kannte mal einen, der nicht zur Arbeit kam, weil er vergessen hatte, seinen Kalender umzublättern. Der Blick kippt von der Vertikalen in die Horizontale, einigermaßen beschleunigt werden wir an ein Ziel geschossen, mit platt gedrücktem Hinterkopf. Der reisende Konsument. Erfindung von Konservendosen und Tütensuppen. Die Landschaft wird zerrissen. Nystagmus. Das Flirren der Augen aus dem Zugfenster heraus, Versuche zu fixieren, im Stakkato. Photographische Zumutungen. Schnappschüsse: Alle sind gerade noch im Bild, im schwarzen Loch der Kamera. Der Blick als letzte Kontur.

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Eine Unterwasserszene aus der Kindheit. Ich kann nicht schwimmen, halte mich am Rand des Beckens fest und tauche immer wieder mit offenen Augen ab, um die Bewegungen der Schwimmer zu beobachten. Die Füße eines Kindes. Die Beine klappen froschartig auf und zu. Ein Bein schlägt mehr als das andere. Eine Fehlstellung vom Fuß. Trotzdem mache ich das so nach und schwimme auch heute noch mit einem Fuß stärker als mit dem anderen.

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Gemütliche Altbauwohnung, 3.OG in der unkonventionellen Jahnstraße, sucht einen Nachmieter.

Die Wohnung hat drei Zimmer, und schöne hohe Decken geben eine angenehme Atmosphäre. Ein Ausblick auf einen kleinen Park bietet sich aus dem Küchenfenster (Südseite). Man hat hier keine lästigen Nachbarn da sehr viele Wohnungen im Haus leer stehen. Die wenigen, die noch mit im Haus wohnen, sind sehr, sehr nett und hilfsbereit. Der Penny und Hornbach sind mit dem Fahrrad sehr schnell zu erreichen, und man findet immer einen Parkplatz direkt vor dem Haus. Die Wohnung ist vor zweieinhalb Jahren renoviert worden und besitzt eine Dusche, was für die Jahnstraße nicht immer selbstverständlich ist. Das Wohnzimmer ist gelb und orange gestrichen das Schlafzimmer ist dunkelgelb auf Tapete gestrichen und das Arbeitszimmer ist hellblau ebenfalls auf Tapete gestrichen.

Es ist eine sehr ruhige Gegend hier, da kaum Verkehr.