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Unter der Oberfläche

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Über Alex Gerbaulets Videoarbeiten DATTERODE (2005) und GEFANGENENBILDER (2007)


Thomas Thiel


Datterode gehört zur nordhessischen Gemeinde Ringgau, ist 866 Jahre alt und hat ca. 1.000 Einwohner. Der Ort im Dreiländereck Hessen, Niedersachsen und Thüringen, liegt zwischen der A4 und der A7. Über die Bundesstraße 7 sind es von hier 50 Kilometer nach Kassel und 25 km nach Eisenach. Vor 1989 lag der Ort nicht in der Mitte Deutschlands, sondern eher abgeschieden im so genannten Zonenrandgebiet. Das Dorf selbst, mit einer Höhenlage von 249 m, seit 1972 ein staatlich anerkannter Luftkurort, beschreibt die Lage auf einer seiner Websites gleichwohl idyllischer: „... wo das Netratal eng wird, liegt eingebettet zwischen Berghängen und Wäldern der Luftkurort Datterode.“ Freizeiteinrichtungen wie Minigolf, Grillplätze, Sportstätten und ein modernes Bürgerhaus mit Kegelbahn sowie etwa hundert Kilometer ausgebaute und beschilderte Wanderwege sind nur einige Beispiele aus dem attraktiven Erholungsangebot der Gemeinde.


Schwarzbild. Wir hören Vogelgezwitscher und das entfernte Rauschen einer Straße. Dann ein Bild: Die Hügellandschaft des Netratals. Mit dieser Einstellung beginnt Alex Gerbaulet ihr Videoportrait des Dorfes Datterode. Die Künstlerin ist einer Pressemeldung gefolgt. Dort hieß es: Der niederländische NS-Kriegsverbrecher Dirk Hoogendam, alias Dieter Hohendamm, der bis zu seinem Tod als beliebter Mitbürger in Datterode gelebt hatte, sei im Juli 2003 aufgespürt worden. Auf diesen Fakten beruht auch der erste Audio-Kommentar, der von einer weiblichen Stimme aus dem Off eingesprochen wird. Wir erfahren, dass der Kriegsverbrecher in den Niederlanden in Abwesenheit zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haft begnadigt wurde. Nachdem er während der Besatzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten die deutsche Staatsangehörigkeit und einen neuen Namen angenommen hatte, war es ihm möglich, sich nach dem Krieg in Datterode niederzulassen, ohne von den deutschen Behörden ausgeliefert zu werden. Dort wurde er kurz vor seinem Tod von Journalisten anhand alter Fotos und Erinnerungen seiner Opfer identifiziert.


Alex Gerbaulet besucht Datterode vom 25. bis zum 27. März 2005. Sie erfasst mit der Kamera die banal wirkenden Alltäglichkeiten und konfrontiert sie auf der Tonebene mit eingesprochenen Tagebuchnotizen: Gleich zu Beginn trifft das Internationale Tagungshotel auf eine Gartenzwerg-Idylle im Vorgarten. Es folgt eine Begehung des Friedhofs. Das Dorf scheint menschenleer. Außer wenigen Frauen am Friedhof, den Geräuschen von Maschinen und Werkzeugen und dem Geklapper von Geschirr gibt es nichts zu sehen oder zu hören. Zwischen den einzelnen Einstellungen gibt es immer wieder Schwarzbilder. Visuelle Brüche – das Abschalten der Kamera, aus Scham vor der eigenen Beobachtungsposition, wie es einmal heißt, wird zum Stilmittel. Das Schwarz markiert dabei auch das, was sich nicht (mehr) filmen lässt. Eine weitere Einstellung zeigt die Dorfgemeinschaft beim Osterfeuer. Die Freiwillige Feuerwehr organisiert den Verzehr von Alkohol und Wurst, Kinder reiben sich die Hände mit Ruß ein und möchten einen Anderen zum Neger machen. Am nächsten Tag ist wieder niemand auf der Straße zu sehen, doch wird hinter den Gardinen sehr wohl registriert, was in dem Dorf vor sich geht. Zum Schluss der Blick von oben, der uns das gesamte Tal eröffnet, Objektivität und Übersicht verspricht und doch nicht einhält. Stattdessen sehen wir ein Kriegsgefallenen- und Heimatvertriebenen-Denkmal oben am Hügel. Offensichtlich fällt es leichter, der eigenen Opfer zu gedenken, als sich mit den Tätern zu beschäftigen.


Immer, wenn in einem kleinen Dorf irgendwo in Deutschland Dinge bekannt werden, die Bürger mit vergangenen Grausamkeiten konfrontieren, stellt sich die unangenehme Frage, wie das passieren konnte. Ein alter Mann stirbt unbemerkt, ein junges Mädchen wird versteckt, ein Paar bringt seinen Säugling um. Oder ein Kriegsverbrecher bleibt über Jahrzehnte unentdeckt, wie in diesem Fall. Das eigene Land, die eigene Nachbarschaft, wird plötzlich fremd. Die potentiellen Zeugen stilisieren sich gegenüber dem medialen Interesse lieber selbst zum Opfer, als sich mit dem Geschehen auseinanderzusetzen. Diese Haltung ist Ausdruck einer gemeinschaftlichen Unsicherheit im Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Verdrängung als aktiver Prozess wird zum gemeinsamen Nenner, um auch in der Abgeschiedenheit eines kleinen Landstrichs die nötige Ruhe zu gewährleisten.

Es ist immer mal wieder die Rede davon, dass wir zu einem anderen Umgang mit unserem Land gefunden haben. Dabei wird allerdings auch über die Entwicklung eines versteckten, angepassten Nationalismus hinweggesehen, der sich gesellschaftlich integriert zeigt und sich dazu teilweise seiner anstößigen Symbole entledigt bzw. sich wie in Zeiten von EM und WM freut, zu einem neuen Selbstwertgefühl gefunden zu haben. Dabei bleibt die Frage, ob dieses neue Selbstwertgefühl nicht auf der Basis eines Erinnerungsverlustes eingetreten ist.

Sicherlich ist die schöne Landschaft eines Naherholungsgebiets attraktiv, trotzdem darf man ihre problematische Geschichte im historischen und politischen Kontext nicht vergessen. Allein deswegen ist eine Auseinandersetzung mit Politik und Geschichte in Deutschland, wie sie den Arbeiten von Alex Gerbaulet zu Grunde liegt, aktuell und wichtig. Alex Gerbaulet fährt nach Datterode, um eine Antwort zu finden. Sie nähert sich dem Dorf auf eine dokumentarische Art und Weise von außen und ohne Gespräche mit den Bewohnern zu führen. Sie tastet sich mit Hilfe der Videokamera an Situationen heran und vermittelt dem Betrachter das Gefühl, sie bei dieser Erforschung zu begleiten. Neben den Zahlen, Daten und Fakten geht es ihr insbesondere um die Visualisierung von Stimmungen und konkreten, alltäglichen Situationen der sozialen und kulturellen Praxis, ihren subjektiven Reflexions- und Verstehensprozess legt sie dabei offen. Wie viel verrät uns das Bild von Datterode über die Tatsache und Möglichkeit des Untertauchens eines Kriegsverbrechers? Inwiefern steht Datterode sinnbildlich für alle anderen Orte, die über die gleiche infrastrukturelle Situation und demographische Struktur verfügen? Inwiefern steht das Tal auch für eine geistige Enge und Abgeschiedenheit? Hinter welchen Vorhängen verstecken wir uns?


Um die Deutungsmacht der Bilder und die nationale Symbolik, allerdings verstärkt in Bezug auf den Körper, dreht sich auch das Video GEFANGENENBILDER, welches zusammen mit Sebastian Neubauer und Mirko Winkel unter dem Label milex Produktion entstanden ist.


Drehort ist diesmal die Jugendanstalt Neustrelitz. In einem einzigartigen Modellprojekt wird dort jungen Inhaftierten die Möglichkeit gegeben, ihre rassistischen und verfassungswidrigen Tattoos zu verändern bzw. übertätowieren zu lassen. Die Kamera begleitet die Tätowiernadel, wir sehen einen frisch tätowierten Männeroberkörper. Inhaftierte berichten von ihrem persönlichen Verhältnis zu den Symbolen auf ihrer Haut. Von Stolz wird berichtet, der einmal mit den Symbolen in Verbindung stand. Tätowierungen werden neben ihrer schmückenden Bedeutung gemeinhin als Zeichen der Abgrenzung oder Exklusivität, nicht zuletzt als politische Stellungnahme verstanden. Hinzu kommt das freiwillige Einverständnis, den beim Tätowieren erfahrenen Schmerz zu akzeptieren. Das Erlangen einer sozialen Zugehörigkeit, aber auch Exponiertheit, scheint ein Prozess zu sein, der im Moment des Stechens festgehalten wird und physisch wie psychisch als genussvoll erfahren wird. Es handelt sich um Zeichen, die einerseits Individualität und andererseits die Macht und Sprache der Gruppe zum Ausdruck bringen sollen. Hier liegen Abgrenzung und Ausgrenzung plötzlich ganz dicht beieinander. Im Gegensatz zu rechter Mode, kodierter Kleidung von Marken wie Londsdale oder Thor Steinar wurden hier die Zeichen direkt in den Körper eingeschrieben. Die Qualität des Resultats rückt dabei häufig in den Hintergrund. Die Gründe, das Angebot der Haftanstalt zu nutzen, bewegen sich zwischen einer veränderten politischen Einstellung und dem Anliegen, die nach wie vor vorhandene rechtsextreme Haltung subtiler durch andere Zeichen wie zum Beispiel eine „88“ (88 = HH = Heil Hitler) auszudrücken. So werden eine Bulldogge, Hakenkreuze, KKK (Ku-Klux-Klan)- und Skinhead-Symbole übertätowiert, die teils aus Dummheit – wie sie sagen –, teils aus Überzeugung gestochen wurden. Die alten Bilder werden hinter den neuen versteckt, in letzter Konsequenz aber nicht ausgelöscht. Sie bleiben weiterhin in der Haut. Wie in der digitalen Bildbearbeitung wird mit vielen Ebenen, Schattierungen und Hell-Dunkel-Kontrasten gearbeitet. Aus Nazisymbolen werden Ornamente. Die bildliche Äußerung wird den gesellschaftlichen Erwartungen/Konventionen angepasst, die Überzeugung oft nicht. Denn Probleme bereiten nur die sichtbaren rechtsextremen Zeichen. Auch wenn sich einige der Gefangenen nicht mehr der Quellen und Herkunft ihrer Zeichen bewusst sind, so ist es jedoch sehr wohl deren Macht, die fasziniert und trotz neuer Kodierung mittels versteckter Präsentation ihre Wirkung zumindest noch in der Szene erzeugt.


Beide hier vorgestellte Videos weisen formale Unterschiede wie Gemeinsamkeiten auf. Während Gerbaulet in DATTERODE die Rolle einer Beobachterin einnimmt, welche die äußeren Anzeichen zu analysieren sucht, konzentriert sie sich in GEFANGENENBILDER neben der Beobachtung zudem auf das Dialogische, den Austausch mit den Gefangenen und dem Tätowierer. Beide Videos sind von festen Einstellungen, einer stark subjektiven Kameraführung und harten Schnitten geprägt. Die Drehorte sind nicht inszeniert. Es wird mit vorhandenem Licht gearbeitet. Die Videos folgen keiner einheitlichen Dramaturgie, sondern zeigen Unterbrechungen, erlauben Sprünge, bestehen wie Gedanken aus Fragmenten, die einander gegenübergestellt werden. Inhaltlich nehmen beide Videos Bezug auf die deutsche Geschichte. Insbesondere steht der aktuelle Umgang mit der Vergangenheit sowie mit nationalen bzw. rechtsextremen Symbolen im Mittelpunkt – ein Interesse, das die Künstlerin durchaus mit anderen Künstler/innen ihrer Generation teilt. Allerdings geht es ihr nicht um die Festschreibung einer Auffassung. Ihre Videos stehen für eine kritische und reflektierte, immer auch selbstbezogene Befragung eines gesellschaftlich wie politischen Ist-Zustandes in Bildern. Biographisches Erzählen trifft auf ein manchmal auch strenges Dokumentieren, in dem Versuch einem Zustand oder einer Situation näherzukommen und unter die visuellen und gesellschaftlichen Oberflächen zu blicken. Dabei nimmt Alex Gerbaulet keine endgültige Position ein, sondern lässt mit ihrem offenen Ansatz Raum für Diskussion und für das eigene Urteil des Betrachters. Mit dieser Art inhaltlicher Auseinandersetzung, aber auch formalen Mitteln lassen sich Parallelen zu Künstlerkolleg/innen wie Hito Steyerl oder Harun Farocki ziehen. Farocki hat mal in einem Interview gesagt: „... mir geht es immer noch darum, dass Erzählen und Erörtern zusammengehören, dass die Diskurse eine Erzählform sind.“ Gleiches lässt sich auch von Alex Gerbaulets künstlerischem Ansatz behaupten, der ebenfalls stark von einer essayistischen Arbeitsweise und einer Beobachtung durch die Kamera geprägt ist.

Die Bilder und ihren Kommentar setzen wir später selbst noch einmal zusammen.